Nachruf auf Frau Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ursula M. Lehr

Die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG) beklagt einen großen Verlust, der Herz und Seele der Gesellschaft und der Gerontologie insgesamt tief berührt: Unser Ehrenmitglied Frau Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ursula M. Lehr ist am 25.04.2022 nach kurzer schwerer Krankheit in ihrem Heimatort Bonn gestorben.

Ursula Maria Lehr (UML) hat so Außerordentliches für den Aufbau und die Ausgestaltung der Gerontologie in Deutschland, der gerontologisch-entwicklungspsychologischen Forschung im engeren Sinn und der gesellschaftlichen und politischen Anerkennung des Alters geleistet, dass es schwer ist, im Rahmen des traurigen Anlasses eines Nachrufs einen Anfang und ein Ende zu finden. Versuchen wir es dennoch.

UML wurde am 5. Juni 1930 in Frankfurt/Main geboren. Sie ist 91 Jahre geworden und man kann mit Fug und Recht sagen, dass nahezu sieben Jahrzehnte ihres biografischen Werdegangs von der Entwicklungspsychologie und Gerontologie geprägt waren. Ihre bereits im Alter von 24 Jahren fertiggestellte Promotion (1954) zum Thema „Beiträge zur Psychologie der Periodik im kindlichen Verhalten“ wurde von Hans Thomae betreut und stand damit von Anfang an im Rahmen einer umfassenden und lebensumspannenden Sichtweise menschlicher Entwicklung. Hinsichtlich ihrer akademischen Entwicklung kam der nächste Meilenstein „erst“ 14 Jahre später, nämlich ihre Habilitationsschrift zum Thema „Berufs- und Lebensschicksal – die Berufstätigkeit der Frau aus entwicklungs- und sozialpsychologischer Sicht“. Aber: Als Frau in der Psychologie, noch dazu mit einem nicht-experimentellen Forschungsansatz, in den 1960er Jahren zu habilitieren war alles andere als selbstverständlich. UML erzählte gerne, dass die erste Frage des zuständigen Dekans in diesem Zusammenhang lautete: „Ist denn Ihr Gatte promoviert?“ Und das Thema war ja auch nicht gerade Mainstream in der Psychologie dieser Zeit, jedoch aus heutiger Sicht absolut innovativ und die Gender-Forschung auch in Bezug auf das höhere Lebensalter vorwegnehmend. Im Jahre 1972 folgte die Berufung auf den Lehrstuhl für Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Universität zu Köln. 1975 folgte sie dem Ruf der Universität Bonn als Ordinaria für Psychologie. 1986 nahm sie den Ruf der Universität Heidelberg auf den Lehrstuhl für Gerontologie an. Eine neue Phase in ihrem akademischen Werdegang begann 1988 mit ihrer Berufung zur Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Eine ihrer ersten Amtshandlungen bestand in einer bis heute gültigen Umbenennung des Ministeriums in Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ein bis heute für die Gerontologie bedeutsamer Impuls ihrer Zeit als Ministerin war die Initiierung eines Altenberichts (heute Altersbericht) pro Legislaturperiode, dessen erster im Jahr 1993 erschien. 1991 kehrte UML zurück in die Akademia und wirkte bis 1998 als Direktorin des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg.

Die akademischen und gesellschaftsbezogenen Leistungen von UML bedürfen einer multiplen und mehrdimensionalen Sichtweise. Man könnte auch sagen, UML hat nach und nach ein vollständiges gerontologisches Orchester mit allen wichtigen Orchesterstimmen aufgebaut – es spielt unüberhörbar bis heute.

Ein Meilenstein der gerontologischen Forschung in Deutschland, aber auch international, war die zusammen mit Hans Thomae erfolgte Etablierung der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie im Jahre 1965, die dann bis zum Jahre 1983 weiterlief und auch weit darüber hinaus noch Daten und Ergebnisse lieferte bzw. zu einer Vielzahl von Konferenzbeiträgen und Publikationen führte. Die Gerontologie und die DGGG sagen aus vollem Herzen danke.

Im Jahre 1972 kam ein weiterer Meilenstein hinzu; es erschien die „Psychologie des Alterns“, die bis heute 11-mal (zuletzt 2006) neuaufgelegt wurde. In diesem 1973 mit dem Max-Bürger-Preis der DGGG geehrten Lehrbuch trat psychologische Forschung zum Altern zum ersten Mal im Reigen der psychologischen Disziplinen als eigene, in sich geschlossene Gestalt auf. Das in diesem Werk zum Ausdruck kommende sehr große Engagement von UML für die gerontologische Lehre fand dann später (1986) in der Gründung eines Post-Graduierten-Studiums am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg. Dieses höchst innovative Format, nicht zuletzt in der gelebten Interdisziplinarität dieses Studiengangs, bezog neben der Psychologie selbstverständlich auch Fächer wie Sportwissenschaft, Biologie, Gerontopsychiatrie, Geriatrie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft ein. Die Gerontologie und die DGGG sagen aus vollem Herzen danke.

Ende der 1970er Jahre folgte ein weiterer Meilenstein: Die „Interventionsgerontologie“ (1979) kam zwar als relativ schmales Bändchen daher, hatte es aber in sich, denn es wurde in einem schon damals für UML völlig selbstverständlichen interdisziplinären Duktus argumentiert, dass Altern alles andere als ein festgefügtes biologisches Programm darstellt, sondern plastisch, veränderbar und gestaltbar ist. Seit diesem Band ist Interventionsgerontologie fest im Kanon der gerontologischen Fächer bis heute verankert. Der Lehrsche Optimismus in Bezug auf die Möglichkeiten einer professionellen Anreicherung von Alternsverläufen und ihr ausgeprägtes und nahezu „flächendeckendes“ Wirken als hochgefragte Vortragende in Sachen eines differenzierten und damit auch positiv getönten Altersbildes fand bisweilen kritische Stimmen mit dem Tenor einer zu optimistischen Alternssicht. Aus heutiger Perspektive ist aber völlig klar, dass spätestens seit Anfang der 1980er Jahren von UML die Grundlagen dafür gelegt wurden, dass heute die deutsche Gesellschaft und Alterspolitik die späte Lebenszeit als eine ertragreiche Phase der menschlichen Entwicklung, individuell und gesellschaftlich, betrachten. Wo ständen wir heute ohne UML? Die Gerontologie und die DGGG sagen aus vollem Herzen danke.

Auch hat UML wichtige forschungs- und dateninfrastrukturelle Entwicklungen angestoßen. Die BOLSA mit ihren Ende des 19. Jahrhunderts/Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Teilnehmer*innen, die mittlerweile nicht nur wissenschaftlich, sondern auch kulturhistorischen Rang besitzt, haben wir bereits erwähnt. Zu nennen ist weiterhin der Anfang der 1990er Jahre erfolgte Aufbau der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters an den Universitäten Heidelberg, Leipzig und Rostock durch UML und andere mit ihrem heute verfügbaren Messintervall von weit über 20 Jahren. Zu nennen ist auch die Rolle von UML als Gründungsdirektorin des Deutschen Zentrums für Alternsfragen an der Universität Heidelberg seit Mitte der 1990er Jahre. Sie wollte einer ihrer ersten Aussagen als Ministerin, nämlich „Wir brauchen ein Nationales Zentrum der Alternsforschung“, wahrmachen. Dass dieses Zentrum am Ende (2005) nicht zu seinem vollen Potenzial reüssieren konnte mag damals gute Gründe gehabt haben. Im Rückblick war es sicher falsch, nicht alles dafür zu tun, dass das zarte Pflänzchen der gerontologischen Forschungsstrukturen in Deutschland im Sinne einer facettenreichen Weiterentwicklung der damals schon vorhandenen Einrichtungen nicht dauerhaft weiter ausgebaut wurde. Der Impuls eines nationalen und breit interdisziplinär aufgestellten nationalen Forschungszentrums ist bis heute nicht eingelöst. Die Person UML war umtriebig, aktiv, nicht ruhend, immer „auf Achse“, in unglaublich vielen Gremien, Vorständen, Beiräten etc. etc. Von einem großen Teil dieser schier unerschöpflichen Energie konnte die DGGG viel profitieren. UML war von 1997 bis 1998 Präsidentin der DGGG, sie war über lange Jahre höchst engagiert auf den wissenschaftlichen Kongressen der DGGG, und sie fungierte viele Jahre zusammen mit I. Falk als Teil der Schriftleitung der Zeitschrift für Gerontologie, die heute Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie heißt. Ferner war UML von 2009 bis 2015 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und von 2004 bis 2008 Präsidentin der Vereinigung der ehemaligen Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments. UML hinterlässt ein überaus reichhaltiges Publikationswerk von weit über 1000 Schriften. Die Gerontologie und die DGGG sagen aus vollem Herzen danke.

Zu den zahlreichen Auszeichnungen von UML zählen das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1987), das Große Verdienstkreuz mit Stern (2014), die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (1999) sowie rezent der ConSozial-Wissenschaftspreis (November 2021) für ihr Lebenswerk.

Und nun stehen wir als Gerontologinnen und Gerontologen und als DGGG da – ohne UML. Das gerontologische Orchester der UML ist aufgebaut, spielt bis heute an vielen Orten der Gerontologie, besitzt auch weit mehr Stimmen als in diesem Nachruf dargestellt. Ihr jungen Gerontologinnen und Gerontologen: Lasst Euch dieses Orchester nicht entgehen, sucht aktiv danach, lasst es auf Euch wirken, setzt Euch damit auseinander, nehmt es mit in Euren zukünftigen Forschungs- und Praxisalltag.

 

Für die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie
Prof. Dr. Andreas Simm
Präsident

 

Für ihre langjährigen Mitstreiter in der Gerontologie
Prof. Dr. Hans-Werner Wahl
Prof. Dr. Andreas Kruse

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